Spielend erstklassig verreisen – First Class von Helmut Ohley

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Der Bahnsteig ist voller Menschen. Einige haben Tränen in den Augenwinkeln während sie sich von ihren Liebsten verabschieden. Der Großteil ist aber freudig und aufgeregt, steht ihnen doch eine abenteuerliche Luxus-Reise in ferne Länder bevor. Die Rede ist von einer Reise mit dem legendären Orient Express. Der Orient Express ist für zwei Dinge bekannt – für viel Luxus und einen Mord. Ob sich beides in Helmut Ohleys neuem Zugspiel findet?! Wir werden sehen…


Helmut Ohley macht Eisenbahnspiele. Diesen Stempel muss er sich gefallen lassen, hat er doch mit Russian Railroads, Trambahn und First Class nun drei Eisenbahnspiele in Folge veröffentlicht. Aber handelt es sich eigentlich bei seinen Spielen tatsächlich um “klassische” Eisenbahnspiele? Eigentlich war schon Russian Railroads nur in ein Eisenbahnthema gekleidet. Im Kern war es ein Euro-Game mit interessantem “Gleisbau”-Mechanismus. Mit German Railroads und American Railrods sind mittlerweile eine große und eine kleinere Erweiterung erschienen, die dem Spiel teilweise neue Elemente hinzufügen – so zum Beispiel unter anderem auch einen Solomodus. Es steht zu vermuten, dass hier weitere Ausbaustufen folgen werden. Trambahn hingegen ist ein reines Kartenspiel für zwei Personen und auch hier wieder nur thematisch in der Welt der Eisenbahn angesiedelt – der Mechanismus ließe sich wohl auf viele anderen Themen übertragen. Mit First Class, dem dritten Spiel in dieser Reihe an Eisenbahnveröffentlichungen verhält es sich ähnlich. Auch hier steht das Thema Eisenbahn etwas losgelöst vom Mechanismus, was dem Spiel an sich allerdings keinen Abbruch tut.

Wie es gespielt wird

First Class ist ein modular aufgebautes Kartenspiel, welches sich tendenziell auch an Gelegenheitsspieler richtet. Allerdings finden Vielspieler genügend Futter, um das Spiel regelmäßig auf den Tisch zu bringen. Dafür sorgen schon die fünf verschiedenen Module, aus denen man immer zwei in die Karten mischt und die hohe Variabilität der Kartenauslage.

Am Anfang fühlt es sich noch mühsam an…

Der Grundmechanismus ist eigentlich ganz einfach: In der Mitte des Tisches liegt eine Auslage von 18 Karten in drei Reihen – je sechs Karten pro Reihe. Aus dieser Auslage wählt man sich eine Karte aus und nutzt deren Effekt direkt. Dabei gibt es unterschiedliche Kartentypen. Um zu verstehen, was diese tun, schauen wir uns zunächst die Auslage der Spieler an. Jeder Spieler hat vor sich ein Tableau, an dem er an seinem Orient-Express baut oder “Strecke macht”. Neue Waggons für den Zug werden nach rechts angelegt – begonnen wird stets mit einem Waggon der Wertigkeit Null. An der anderen Anlegestelle – auf dem Spielertableau oben – wird die eigene Strecke erweitert. Durch das Erreichen von Städten können regelmäßige Bonusaktionen freigeschaltet bzw. Punkte erlangt werden. Die Karteneffekte der Karten, die man aus der Auslage nimmt, sorgen nun dafür, dass ich neue Waggons bekomme, bestehende Waggons aufwerte, meine Strecke ausbaue usw. Dabei gilt zu beachten, dass eine Reihe der Auslage immer dann abgeräumt wird, wenn so viele Karten genommen wurden wie Spieler mitspielen. Sind alle Reihen abgeräumt, hat jeder drei Karten genommen und die Runde endet.

Auch nicht zu verachten sind die Münzen, die man während des Spiels einsammeln kann. Diese werden auf dem Tableau von links unten beginnend abgelegt und dienen als eine Art Joker für zusätzliche Aktionen. Verbrauche ich sie nicht, sind sie am Ende Punkte wert.

Insgesamt werden zu Beginn des Spiels drei Kartenstapel gebildet, die im Spielverlauf nach und nach runtergespielt werden. Ist der Stapel mit der “1” leer kommt es zur ersten Wertung und so weiter. Die Wertung ist der hauptsächliche Siegpunktemotor des Spiels. Zunächst wird beginnend beim Startspieler geschaut, welche Bonusaktionen man auf seiner Strecke freigeschaltet hat. Dabei zählen nur solche Bonusaktionen als freigeschaltet, die man mit seiner Lok (ich muss bei der kleinen Lok und der Strecke irgendwie immer an Emma aus Lummerland denken) auch erreicht hat. Es nutzt also nichts ohne Ende Streckenkarten zu nehmen, wenn man die darauf befindlichen Städte nicht auch mit der Lok erreicht. Die Bonusaktionen kann man in beliebiger Reihenfolge nutzen und so seinen Zug vor der eigentlichen Wertung noch weiter aufwerten und so mehr Punkte für die folgende Zugwertung erlangen.

Strategie: Möglichst lange Züge bauen…

Die Zugwertung erinnert ein wenig an die Wertung von Russian Railroads: Je weiter es die Schaffner in dem jeweiligen Zug nach vorne geschafft haben, desto mehr Waggons werden gewertet – nämlich alle Waggons bis zu dem, in dem sich der Schaffner gerade befindet. Die Wagen geben Punkte in Abhängigkeit ihrer Wertigkeit – eventuell angelegte Aufwerter verdoppeln die Punkte noch mal, so dass ein 12er Waggon – die höchste Ausbaustufe – 24 Punkte einbringen kann.

Nach der dritten Runde ist Schluss und es gilt noch ein paar Sonderpunkte zu verteilen. Die sogenannten Spielende-Karten geben Punkte für gesammelte Kartentypen wie beispielsweise Schaffner-, Waggon- oder Lok-Karten und wer es geschafft einen seiner Schaffner als erster, zweiter oder dritter bis in die Lok zu bewegen, bekommt auch noch mal bis zu 20 Punkte. Schließlich gibt es noch Punkte für übrig gebliebenes Geld – ein Punkt je Geldstück.

Die anderen Module addieren nun Variationen der oben beschriebenen Mechanismen und es gibt teilweise sehr interessante Karteneffekte, die das Spiel noch mal deutlich verändern können und etwas komplexer machen. Gerade das Gleisbaumodul macht doch noch mal einiges anders und eröffnet eine dritte Kartenreihe zwischen den beiden Zügen, die deutlichen Einfluss auf die Wertung haben kann.

Noch ein paar Sätze zum viel diskutierten Modul “Mord im Orient Express”: Bei diesem Modul ist einer der Spieler der “Mörder” und alle Spieler sammeln neben Punkten noch Spielmarken mit Fingerabdrücken. Hat man am Ende zu viele Fingerabdrücke hinterlassen, wird man vor der Wertung verhaftet und scheidet aus. Das ist hart, aber thematisch korrekt, denn wer im Knast sitzt, kann nicht gewinnen. Nichtsdestotrotz ist dieses Modul nicht jedermanns Sache. Aber da das Spiel modular aufgebaut ist, kann man es ja einfach weglassen. Aus unserer Sicht aber eine lustige Variante, bei der man eben vermeiden muss, Fingerabdrücke zu hinterlassen…

Was uns gefallen hat

Zunächst sieht alles erst mal viel aus: Viele Karten, unterschiedliche Module, Spielertableaus und verschiedene Anlagepunkte für Karten. Zudem zahlreiche Symbole und viele kleine Mechanismen. Aber im Kern ist das nach zwei Spielzügen vergessen und man merkt dem Spiel seine Eleganz an. Hier ist nichts überflüssig, nichts verschwurbelt und alles am rechten Platz. Hat man sich erst mal eingespielt, geht alles sehr schnell und locker von der Hand.

Schön ordentlich im Orient Express

Der Kernmechanismus ist so einfach wie bestechend: Nimm eine Karte und tue, was diese verlangt. Dass es dabei natürlich vieles zu bedenken gibt, gefällt den Vielspielern. Gelegenheitsspieler können es aber auch einfach aus dem Bauch spielen und dabei erstmal nur auf ihr eigenes Tableau achten. Mit der Zeit wird man jedoch achtsamer und bedenkt bei der Wahl der Karte, dass die Reihe nach dem Nehmen der Karte abgeräumt wird und kann so dem Gegner die eine oder andere besonders vorteilhafte Aktion streitig machen. Das ist ärgerlich, aber nicht gemein. Und auch das gefällt an First Class, es ärgert einen kaum, wenn die beste Aktion nicht mehr verfügbar ist, da man mit nahezu jeder Karte auf dem Tisch etwas anfangen kann. Dadurch ist es eher taktisch und weniger strategisch, was auch wiederum in der Regel den Gelegenheitsspielern zugute kommt.

Außerdem funktioniert First Class in jedweder Besetzung wunderbar. Wobei ich sagen muss, dass es – abgesehen vom Mörder-Modul – insbesondere zu zweit gut gefällt. Dennoch, auch zu dritt oder zu viert funktioniert es locker flockig und spielt sich ohne große Downtime. Man hat eigentlich immer was zu tun und kann während den Zügen der anderen schon mal die Auslage nach den interessantesten Karten sondieren – und sich dann ärgern, wenn die gewünschte Karte in einer Reihe liegt, die dann abgeräumt wird…

Das Material ist klassisch gut gefertigt, hier leistet sich Hans im Glück keinen Ausrutscher. Besonders hervorzuheben ist das Tiefziehteil, in dem man alles schön säuberlich einordnen kann. Und vorausgedacht wurde auch schon: Das Tiefziehteil ist so gefertigt, dass auch eine Erweiterung noch hineinpassen wird – zumindest die erste…

Was uns nicht gefallen hat

Naturgemäß muss man bei einem modularen Kartenspiel erst die Module mit den Grundkarten mischen. Dies gilt es gewissenhaft zu tun, sonst könnte die Auslage unter Umständen zu einseitig ausfallen. Außerdem hat man am Ende des Spiels ein wenig Sortierbedarf, da man ja alle möglichen Waggonkarten vor sich liegen hat und auch die gewählten Karten aus der Auslage aus verschiedenen Modulen stammen. Das nervt manchmal, lässt sich aber umgehen, indem man einfach noch eine Partie spielt, dann ist wenigstens schon gut gemischt.

Die Länge des Spiels ist eigentlich gut bemessen, auch wenn man das Gefühl hat, dass man gerne noch eine Runde dranhängen würde. Denn nach der dritten Runde hat man seine “Maschine” aufgebaut und würde in der nächsten Runde richtig viele Punkte machen. Das Spiel endet somit gefühlt etwas zu früh. Aber warten wir ab, was Erweiterungen noch bringen.

Der Preis für das Spiel ist für viele Spieler “gefühlt” recht hoch, da es ja “nur” ein Kartenspiel ist. Das könnte dem Erfolg im Weg stehen. Leider. Denn es ist aus meiner Sicht eines dieser Spiele, dass Gelegenheitsspieler den Weg in ganz andere Spielekategorien erschließen könnte. Und wer First Class ein paar Mal gespielt hat, der wird auch mit Russian Railroads keine Probleme haben. Und seien wir mal ehrlich, wenn man ein Spiel mehr als zehnmal gerne spielt, darf es auch ein wenig mehr kosten als 19,99.

Was auch auffällt: Nach ein paar Partien weiß man schon sehr genau, welche Karten bei welcher Strategie die besten sind und das Spiel wirkt vordergründig etwas gleichförmig. Aber durch die variable Kartenauslage wird dies deutlich aufgebrochen und auch die anderen Module sorgen für Abwechslung.

Fazit

Auf der Spiel’16 in Essen war es eine der Neuheiten, hat mich jedoch kalt gelassen. Was für ein Fehler! Helmut Ohley hat es (erneut) geschafft, einen eleganten Mechanismus in ein Eisenbahnthema zu kleiden. Das schöne dabei: Es spricht Vielspieler und Gelegenheitsspieler gleichermaßen an – das muss man erst mal schaffen! Das Spiel ist auch nach vielen Partien immer wieder spielbar und bleibt stets variabel. Die Module tun ein übriges dazu. Inwiefern man das Mörder-Modul mag, muss jeder selber wissen. Ich finde es ein spaßige Variante, bei der das Ziel eben nicht einfach nur ist, die meisten Punkte zu bekommen.

First Class wurde in Nürnberg durch das Beeple Netzwerk bereits ausgezeichnet und die Aufmerksamkeit, die das Spiel bereits von Kritikern, Bloggern und Podcastern geschenkt bekommt, deutet aus meiner Sicht bereits an, dass es auch auf der Nominierungsliste zum Kennerspiel des Jahres landen wird. Die Auszeichnung wäre für das Spiel aus meiner Sicht absolut gerechtfertigt, denn ich sehe momentan keinen Kandidaten, der den Spagat zwischen Experten- und Familienspiel so gut hinbekommen hat wie First Class. Insofern wünsche ich Hans im Glück und Helmut Ohley eine gute Fahrt und freue mich schon auf die erste Erweiterung.

Februar 28th, 2017 by